Es war im Sommer 2016 als ich das erste Mal richtig mit VR (Virtual Reality) in Kontakt kam. Zuvor hatte ich immer wieder Videos von VR-Aufnahmen gesehen. Auch die eine oder andere Augmented Reality Anwendung hatte ich bereits zuvor gesehen. Es war der Sommer, in dem Pokémon Go Augmented Reality einer breiten Öffentlichkeit zugänglich machte. Lego hatte bis dahin in seinen Verkaufsprospekten immer wieder Augmented Reality integriert. Aber AR und VR sind ja nicht wirklich das Gleiche.
Zu diesem Zeitpunkt arbeitete ich als Verantwortlicher für New Business für eine Berliner Kreativagentur, die sehr stark „digital unterwegs“ war. Bei einer Klausurtagung zeigte ein Berliner Startup, was im Bereich der Virtual Reality derzeit (wie gesagt, wie sprechen über das Jahr 2016) Stand der Technik war. Das Setting war so einfach wie effektiv. Klar VR-Brille und VR-Controller für die Hände und: ein Brett auf dem Boden. Mit der VR-Brille wurde aus diesem „Brett“ mit einem Mal ein „Steg“. Und aus dem Teppich des Hotelzimmers wurde der „Gran Canyon“. 1.200 Meter ging es links und rechts des „Stegs“ in die Tiefe. Die Aufgabe: auf den „Steg“ hinauslaufen, an dessen Ende eine Vase holen und diese zurückbringen.
Ich bin zwar nicht schwindelfrei, leide aber auch nicht unter Höhenangst – und trotzdem
Klingt einfach? Nicht für mich. Ganz, ganz vorsichtig stieg ich auf das Brett pardon, den Steg. Mit der Fußspitze hatte ich zuvor die Brettkante ertastet. Jetzt stand ich da auf dem Steg und hatte eine großartige Aussicht über den Grand Canyon. Ich bin jetzt nicht ganz schwindelfrei aber ich leide auch nicht gerade unter Höhenangst, trotzdem bewegte ich meine Füße nur millimeterweise nach vorne. Ich spürte Schweiß an den Händen und auf der Stirn. Erst als ich mir sagte: „Moment – das ist nicht der Grand Canyon, das ist ein Hotelzimmer, da geht es keine 1.200 Meter in die Tiefe, sondern eineinhalb Zentimeter bis zum Teppich, erst dann ging es (etwas besser). Ich war zumindest in der Lage, zwar sehr zögerlichen Schrittes, aber wenigstens war eine Bewegung erkennbar, mich sukzessive in Richtung Stegende und damit zur Vase zu bewegen. Dann noch bücken – ohje, ohje, geht das hier tief herunter – und die Vase greifen. Erleichtert konnte ich den Rückweg antreten, wie immer wenn es hinter einem sicher ist, ging das Zurück deutlich schneller. Erleichtert und meinen Humor wieder gefunden, entschied ich mich kurzerhand, die Vase in den Grand Canyon zu werfen.
Brille auf und weg – trotz „Low-Poly“
Bis heute faszinieren mich insbesondere zwei Dinge an diesem Virtual Reality Erlebnis. Erstens: man ist sofort drin. Ich hatte die Brille aufgesetzt und fast im gleichen Augenblick stand ich an der Kante des Grand Canyon. Es hatte keine Sekunde gedauert, bis mein Kopf umgeschaltet und komplett „vergessen“ hatte, dass ich mich eigentlich in einem Hotelzimmer befand. Und zweitens: die Grafik – sie war nicht einmal besonders gut. Wer heute „Red Dead Redemption 2“ oder vielleicht noch ausgefeiltere 3D Welten gewohnt ist, wäre entsetzlich enttäuscht. Der Grand Canyon war mit ziemlich großen Polygonen nur grob modelliert. Und trotzdem: es hat dem Erlebnis und dem „Realismus“ keinen Abbruch getan.
VR, das „Next Big Thing“?
Ich war damals der festen Überzeugung, dass „VR“ das nächste „Big Thing“ sein wird. Im Grundsatz teile ich diese Überzeugung noch heute. Allerdings lässt sich feststellen, dass der Moment des „Big Thing“ noch weiter auf sich warten lässt. Wie gesagt, war ich damals für New Business verantwortlich und ich habe eine Reihe von Kunden aus der High-Tech-Industrie auch strategisch beraten. Also habe ich mir viele Gedanken gemacht, wie sich „VR“ über den Gaming-Sektor hinaus nutzbringend einsetzen lässt. Die grundsätzlichen Probleme sind bekannt und auch heute zum Teil gelöst. Das sind vor allem die Kabel, die nicht nur recht schwer sind, sondern einfach durch ihre Länge und Materialität die Bewegungsfreiheit einschränken. Nicht so einfach zu lösen ist die Frage, wie sich Bewegungen wie Gehen, Laufen, Rennen über die VR abbilden lassen. Schnell zeigt sich, dass für viele Anwendungen, die über das Sitzen und Stehen hinausgehen, größere Räume benötigt werden. Diese sind zwar leer – das Ambiente kommt von der VR – aber der Platz für die Bewegung wird trotzdem gebraucht. Und damit kommen wir zur zweiten Herausforderung: VR ist meist nur etwas für „wenige“. Ich hatte einige Zeit später ein Konzept für eine Messe entwickelt mit der Idee, ein Produkt in einer VR-Welt zu präsentieren. Aber Messen sind dafür gemacht, ein breites Publikum zu interessieren. Gut, kann man sagen, dann hat man eben ein paar mehr VR-Brillen auf dem Messestand. Trotzdem bleibt das Problem, das VR-Erlebnis haben nur „wenige“.
VR macht nicht einsam
Ich habe den Eindruck, dass viele Überlegungen, was sich alles mit VR anstellen ließe, im Kern Anwendungen sind, die tendenziell „einsam machen“. Oder, weniger pathetisch formuliert, die sich auf den Einzelnen fokussieren. Da ist die Idee ein großes Bauvorhaben einem Investor mittels VR vorzustellen, da sind die meisten Spieleideen, die den Gamer mit VR-Welten beeindrucken. Ich habe habe mich gefragt, ob das „next big thing“ nicht vielmehr darin bestehen könnte, mit VR Menschen zu verbinden (vielleicht ist die Idee des Metaverse von Meta ja genau dieser Ansatz – aber das ist einen anderen Blogeintrag wert). Ich hätte eine konkrete Idee für VR, die gleichzeitig auch kein Platzproblem hat (wer daraus übrigens ein Geschäft machen will, ist herzlich eingeladen – ich selbst werde es wohl nicht mehr machen – einzige Bedingung: haltet mich auf dem Laufenden – und wenn es jemand erst meint, schreibe ich auch gern das Konzept zu dieser Geschäftsidee): Warum nicht das „virtuelle Klassenzimmer“ mit VR realisieren? Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass Menschen gemeinsam besser lernen. Ich glaube, dass das Klassenzimmer oder der Hörsaal die besseren Orte sind, um zu lernen. Es braucht diesen gelegentlichen Blick zum Nachbarn auf der linken und zur Nachbarin auf der rechten Seite. Es braucht die Möglichkeit, den eigenen Blick kurz über die anderen „Leidensgenossen“ schweifen zu lassen, die ebenfalls in genau diesem Moment versuchen, den Stoff zu verstehen. Und alles das, können keine YouTube-Tutorials und kein Home-Schooling leisten. Dabei wäre es ganz einfach: jeder Schüler oder jede Studentin bekommt eine VR-Brille und gemeinsam lernen sie im virtuellen Klassenzimmer. Egal wo jeder und jede auf der Welt in Wirklichkeit gerade sitzt. Entscheidend ist, dass sie zum gleichen Zeitpunkt gemeinsam lernen. Ach ja, und ich glaube nicht, dass bei dieser – ich höre schon die Ausrufe: wie altmodisch: Frontalunterricht (geht übrigens auch in der Seminarversion) – Art des Unterrichts die Wissensvermittlung über einen CG-Avatar funktionieren kann. Auch hier bin ich davon überzeugt: Menschen lernen nicht nur am besten mit Menschen, sondern auch von Menschen.